Haiti-Helfer werden nicht allein gelassen

Michael Steil im Gespräch (Foto: Martin Jost)Freiburg (pm) – Der Freiburger Michael Steil ist seit Dezember 2008 der erste Bundeskoordinator für psychosoziale Notfallversorgung (PSNV) im Deutschen Roten Kreuz. Zur Zeit bereitet er in Berlin die Einsatznachsorge für die heimkehrenden Helfer aus dem haitianischen Erdbebengebiet vor.  

„Herr Steil, wie viele Helfer des Roten Kreuzes arbeiten im Katastrophengebiet Haiti?“

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„Laut dem aktuellsten Lagebericht, der mir vorliegt, sind derzeit 54 Delegierte vor Ort. Diese arbeiten mit 154 Helfern aus Haiti zusammen. Zusammen also 208 Helfer vom Roten Kreuz.“

„Ist das ein durchschnittlicher Auslandseinsatz?“

„Nein, das ist ein besonders großer Einsatz. Die aufgebotene Unterstützung in Haiti ist in etwa so umfangreich wie nach dem Tsunami im Dezember 2004 in Südostasien. Nur, diesmal konzentriert sich alles auf ein einziges Land. Es dürfte der größte Hilfseinsatz in einem einzelnen Land in der Geschichte des Roten Kreuzes sein. Zu den besonderen Herausforderungen gehört neben der riesigen Zahl der Hilfsbedürftigen, dass in Haiti praktisch jegliche Infrastruktur vernichtet wurde. Auch die Infrastruktur, die Hilfsorganisationen schon vor dem Unglück besaßen, ist zusammen gebrochen.“

„Was sind das für Menschen, die von heute auf morgen in ein Erdbebengebiet aufbrechen und Rettungsaktionen durchführen?“

„Die Helfer werden aus einem großen Pool rekrutiert und haben sich alle im Voraus bereit erklärt, im Bedarfsfall ins Ausland zu gehen. Es sind vor allem medizinische Kräfte, Ärzte, Pflegepersonal und Rettungsdienstler; aber auch Ingenieure und Handwerker. Ihr Arbeitsplatz und Alltag muss ihnen natürlich Raum geben, so einen Einsatz zu machen.“

„Wie lange ist jeder Helfer in Haiti und wie lange dauert der Einsatz insgesamt?“

„Die einzelnen Kräfte werden nach höchstens vier Wochen ausgewechselt und sind danach mindestens genau so lange zu Hause, bevor sie möglicherweise noch einmal in den Einsatz gehen. Für einen Auslandseinsatz veranschlagt man an die sechs Monate. Es ist aber möglich, dass die Helfer in Haiti deutlich länger präsent sein werden, weil die von vornherein unzureichende Infrastruktur so gründlich zerstört wurde.“

„Wie verändert sich die Zielsetzung innerhalb eines so langen Einsatzes?“

„Die Schwerpunkte im medizinischen Bereich haben sich inzwischen von Notfallrettung und chirurgischen Verletzungen zu längerfristiger Versorgung verlagert. Zum Beispiel müssen Durchfall-Erkrankungen behandelt, Seuchen verhindert und Impfungen durchgeführt werden. Dafür bleiben die Helfer nicht nur im Krankenhaus, das im Stadion von Carrefour aufgebaut wurde, sondern mobile Einheiten bringen medizinische Hilfe in die Camps und Massenunterkünfte. Strukturell muss jetzt schon für die Regenzeit, die ab April beginnt, geplant werden. Dafür müssen zum Beispiel die Unterkünfte und sanitären Anlagen noch modifiziert werden.“

„Welchen psychischen Belastungen ist ein Helfer in der Regel ausgesetzt?“

„Neben dem Leid, das er vor Ort sieht und sich vorher nicht ausmalen konnte, spielt noch die mögliche Gefahr durch Kriminalität und Nachbeben eine Rolle. Wobei das Sicherheitsempfinden stark subjektiv ist.   Trotzdem; wenn ein Helfer aufgrund der Gefährdung seines eigenen Lebens abwarten muss, fühlt er sich extrem hilflos. Das gleiche gilt, wenn Ressourcen-Engpässe der Grund für eine Verzögerung sind. Oder wenn die medizinische Hilfe bei ständiger Improvisation und unter extremsten Bedingungen passieren muss. Ärzte müssen zum Beispiel bei derselben Patientin ein Kind entbinden und Gliedmaßen amputieren. Und gerade in den ersten Tagen fehlten Schmerzmittel, also mussten Ärzte bei der Versorgung von Wunden oder dringenden chirurgischen Eingriffen ihren Patienten Schmerzen zufügen. Zu all dem kommen vielleicht noch Stressoren wie mangelnde Kultur- und Sprachkenntnisse oder schlicht körperliche Überforderung.“

„Werden die Helfer ins kalte Wasser geschmissen oder können sie sich irgendwie vorbereiten?“

„Die psychische Vorbereitung ist Teil der Ausbildung, die die Einsatzkräfte unabhängig von einem konkreten Einsatz erhalten. Zum Beispiel sind das Strategien der Stressbewältigung und die so genannte Psychoedukation. Das heißt, sie werden über mögliche Folgen eines belastenden Einsatzes aufgeklärt und dass es normal ist, seelische Belastungen bei sich zu spüren und darüber zu sprechen. Unmittelbar vor dem Einsatz erhalten die Helfer eine etwa einstündige Einführung, in der sie neben technischen Aspekten auch noch mal auf mögliche psychische Folgen vorbereitet werden. Sie erhalten einen Flyer, der extra für den Haiti-Einsatz aktualisiert ausgearbeitet wurde. Er gibt ihnen Techniken der Selbstfürsorge an die Hand. Zum Beispiel die der Fragmentierung, also ein bewusster Tunnelblick auf die eigene Aufgabe und das Ausblenden der vielen Felder, in denen der Einzelne nicht helfen kann. Schließlich sind die Teamleiter vor Ort die ersten Ansprechpartner für ihre Mitarbeiter. Sie sollen ein offenes Ohr für gestresste Helfer haben und sie können bei Bedarf weitere Hilfen vermitteln. Außerdem müssen sie ihren Leuten kommunizieren, dass niemand rund um die Uhr arbeiten kann und soll. Auch, wenn das Leid natürlich nicht aufhört, wenn man sich Freizeit nimmt oder schläft. Das verursacht eine ständige innere Spannung und Abwägung des eigenen Wohlbefindens gegen die Arbeit.“

„Und wenn die Einsatzkräfte heimkehren? Droht Einzelnen eine Art Haiti-Syndrom, das sie vielleicht noch Jahre lang quält ?“

„Nein, denn die Einsätze werden auch nachbereitet. In den ersten zwei, drei Tagen nach dem Einsatz gibt es ein verpflichtendes, so genanntes technisches Debriefing. In dieser Nachbesprechung wird über die Arbeit in Haiti gesprochen, um Probleme zu beseitigen und Erfahrungswerte zu sichern. Das hat auch schon psychologische Funktion. Im Debriefing wird auch offensiv ein Gespräch unter vier Augen oder im Kollegenkreis über das Erlebte angeboten, das ein erfahrener Ansprechpartner leitet. Gleichzeitig werden die Familien der Helfer darüber aufgeklärt, was für seelische Reaktionen auftreten können. Dass diese Reaktionen normal sind und dass die Angehörigen den Helfer und sein Erleben vor allem ernst nehmen sollen. Die Belastung reißt in der Heimat nicht sofort ab. Zunächst erlebt der Helfer eine extreme Diskrepanz zwischen seiner Arbeit in Haiti, wo es um Leben und Tod ging, und den völlig anders proportionierten Problemen, die im Alltag auf ihn warten. Dann begegnet er ständig Bildern, die ihn an seinen Einsatz erinnern, ob er die Zeitung aufschlägt oder Fernsehen schaut. Und viele Helfer haben es auch als schlimm erlebt, dass ihre Arbeit von manchen Medien unvorsichtig als unkoordiniert oder sogar als Versagen dargestellt wurde, obwohl sie in Anbetracht der zerstörten Infrastruktur so schnell kam, wie es menschenmöglich war. Am wichtigsten ist wieder, dass der Helfer für sich selbst sorgt, indem er Hobbys nachgeht, Sport treibt, das Familienleben genießt oder was ihm sonst gut tut.“

„Und wenn einem Rückkehrer alle Gesprächsangebote nichts nützen, wenn er depressiv bleibt oder seine schlimmen Erinnerungen nicht los wird?“

„In so einem Fall können ihm weiterführende Hilfen vermittelt werden, sprich: zum Beispiel eine Psychotherapie. Kein Helfer wird allein gelassen.“

„Es kann also niemand durch die Maschen fallen?“

„Dass jemand durch die Maschen fällt, lässt sich nie ganz ausschließen. Aber es ist sicher, dass jedem Helfer die Angebote der psychosozialen Versorgung bekannt sind. Die Hilfsangebote annehmen muss er am Ende nur selbst. Aber es gab in den letzten beiden Jahrzehnten nicht nur viele wissenschaftliche Erkenntnisse über belastende Einsätze und ihre Folgen, sondern auch einen Bewusstseinswandel. Unter den heutigen Mitarbeitern ist es weitgehend normal, psychische Belastungen zu thematisieren und nicht als Schwäche misszuverstehen.“

„Ist die Hilfe für Helfer also so gut wie noch nie?“

„Die Hilfsangebote in ihrer aktuellen Form sind das Ergebnis langjähriger Verbesserungen und umgesetzter Erfahrungen. Sowohl, was wissenschaftliche Aktualität angeht, als auch die Vernetzung der Angebote und den erwähnten Bewusstseinswandel. Natürlich lässt sich aber immer wieder aus Erkenntnissen lernen. Zum Beispiel wurde noch nie so ein starkes Augenmerk auf die Mitarbeiter im Einsatz- und Lagezentrum im Generalsekretariat des DRK gelegt wie jetzt. Dieses Dutzend Mitarbeiter, die die Helfer koordinieren, bekommen all das Leid und die Not in Haiti genau mit, können aber selbst nicht handfest helfen. Das ist eine ganz eigene Belastungssituation. Dass 2008 die Position eines Bundeskoordinators für PSNV geschaffen wurde, ist auch so ein Erfahrungswert. So ist gesichert, dass eine Person den Gesamtüberblick über die Hilfsangebote für die Helfer im DRK hat und auf die Umsetzung der Qualitätsstandards achtet.“

„Was ist Ihre Aufgabe im Zusammenhang mit dem Haiti-Einsatz?“

„Derzeit bin ich an mehreren Tagen in der Woche im Generalsekretariat in Berlin und stehe den Mitarbeitern des Führungs- und Lagezentrums mit Informationen über die PSNV zur Verfügung. Ich vermittle zum Beispiel ganz praktisch Kontakte zu weiterführenden Hilfen, die Helfer vielleicht in Anspruch nehmen wollen. Und ich stehe auch selbst für nachsorgende Gespräche zur Verfügung, ob telefonisch für Helfer in Haiti oder in kollegialen Nachbesprechungen oder Einzelgesprächen in Deutschland.“

„Werden Sie bald von Hilfe suchenden Helfern überrollt?“

„Nein, die Helfer werden ja so versetzt abgelöst, wie sie in den Einsatz gegangen sind. Es geht hier im Durchschnitt um einstellige Zahlen, die täglich zurück kommen. Und bei Weitem nicht alle werden Hilfe bei der Bewältigung des Erlebten benötigen.“

Das Gespräch führte Martin Jost

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